Erling

Hans Land

Dieses dänische Land ist schön. Die Sprache mit feierlich nordisch-germanischen Klängen fremd — fremdartig der Menschentyp, der, oft so wundervoll rasserein, flachs- oder goldglänzendes Haar mit schneeiger Hautfarbe, gertenhafter Schlankheit und jenen geheimnisvoll groß gewölbten und seltsam glänzenden Augen eint, die Meervölkern eigen. Ich liebe diese Küste Seelands, die, von der Hamletstadt, dem verträumt-schönen Helsingör, ein Band schlichter, behaglicher Landhäuser schmückt, die, im Grün der Gärten versunken, auf das Meer hinausträumen, hinüber zur Küste Schwedens. Bei Regenluft rückt sie so greifbar nahe...

Am Tor des Nordens stehen wir, denn das dadrüben ist Skandinaviens Südrand. Von ihm aus erstreckt sich die gewaltige Halbinsel empor bis zu den Fjorden und Felsen Norwegens. Dort oben ist Ibsens Grab — dort ist des Eisvogels Heim — dort irgendwo bleichen Andrés, des Nordpolfliegers, Gebeine, dort droht die arktische Nacht, dort schleichen ihre weißen Riesenbären, hocken ihre Pinguine, tummeln sich ihre märchenhaften Walrosse um irrefahrende, glitzernde Eispaläste. Dort oben schläft das Geheimnis des Pols, das, wie der mythische Magnetberg die Schiffsnägel, kreisende Forschergedanken ruhelos anzieht. An des Nordens Schwelle stehen wir, und seines Wesens Atem weht uns an...

Man verschließt hier keine Türen. Diese Striche kennen keinen Bettler und keinen Dieb. Wie Gottesfrieden liegt es über den Halden. Es ist alles so anders als bei uns. Im bleichen Licht der Dämmerung, die die Nächte in diesen Junizeiten nicht dunkeln läßt, im Zauber blaßfarbiger, wunderbar zart getönter, phantastischer Sonnenuntergänge, die leise nachglänzen bis zur Morgenröte, im silbergrauen Schimmern der See unter drohendem, grauschwarzem Himmel, in den seltsamen Augen der Küstenbewohner — in alledem liegt etwas Mystisches, etwas vom fernen Rätsel des Nordens, vom Schweigen und Brüten der arktischen Welt dadrüben, das in die Sommerstille hier der Nordwind herüberträgt.

... In einer kleinen Pension einer Villenkolonie dieser seeländischen Küste war ich zu stiller Arbeit eingekehrt. An einem der ersten Vormittage in dem grünumrankten Häuschen klopft es an meine Tür. Ich rufe „Herein“ und reiße die Augen auf. Ein hochgewachsener, prachtvoller Mensch tritt ein, die blaue Hausknechtschürze vorgebunden, und fragt mich in wohltönendem, gutartikuliertem Dänisch, ob nicht ein Paar meiner Schuhe verwechselt worden sei. Das bestätigte sich, und der Mann bat wegen des Irrtums um Entschuldigung. Ich weiß nicht, was mich im Moment bestimmte, ihn nach seinem Namen zu fragen. Wohl seine Heldengestalt und die Art, wie er das Haupt trug. „Erling“, antwortete er und ging mit einem leichten Nicken seines merkwürdigen Kopfes hinaus.

„Erling“. — — Ein alter, stolzer, nordischer Königsname für den Mann, der die Schuhe putzt. Freilich heißen auch die deutschen Hausknechte gern Friedrich, aber doch niemals Arminius, während es hier Köchinnen gibt, die Ingeborg, und Stubenmädchen, die Edda heißen. Und diese Dienenden machen ihrem hochtönenden Namen keine Unehre. Jener Erling aber beschäftigt mich nachhaltig. Die Spanne Zeit, da ich ihn sah, war gar zu kurz, als daß ich mir darüber hätte klar werden können, was mich an dem Mann so interessierte. Die Augen waren blau und von einem befremdlichen Ausdruck. Ihr Blick so in die Ferne gerichtet, als sähen sie Dinge, die weit draußen lägen. Sie waren nicht eigentlich traurig — diese Augen, aber ernst — tiefernst — wie die stillste — heiligste — weltabgeschiedenste Einsamkeit. Ja — wunderbar einsame Augen hatte der Mann.

Beim Frühstück fragte ich das feine, alte Fräulein, die Besitzerin der Pension, nach Erlings Heimat.

„Er ist von Laaland,“ sagte sie, „jeder interessiert sich für ihn. Ja — Erling.“ — — Sie sagte es mit Bedeutung und wechselte dann das Thema, als sei jener Gegenstand zu ernst und zu wichtig, um so obenhin bei Tisch behandelt zu werden. Nach Aufhebung der Tafel hörte ich von der Wirtin, die einer Herzogin gleich bei Tisch präsidiert, Erling sei länger als fünfundzwanzig Jahre im Hause. Sie sprach von dem Mann im Ton höchster Schätzung und schien nicht geneigt, nähere Aufschlüsse zu geben, wie man etwa die Verhältnisse eines lieben Freundes Fremden ungern aufdeckt. Ich ging dem Problem auf eigenen Wegen nach. Ich traf Erling bei mannigfachen Arbeiten in Hof und Garten, sah ihn Holz spalten, Beete umgraben, Kirschen pflücken, Berge nasser Wäsche in einer Karre zum Trockenplatz fahren, sah ihn das Riesenheer der Hühner versorgen und auf einem alten Zweirad die Postpakete holen. Sein Körper war muskulös und trug auf breiten Schultern ein — Denkerhaupt. Volle, dunkelblonde, mit grau gemischte Locken umrahmten eine prachtvolle Stirn. Die Nase war wundervoll, kräftig und fein, in einem leichten Adlerschwung gebogen. Der bartlose Mund schmallippig, herb, doch nicht ungütig, die Zähne weiß und leuchtend. Ich schätzte den Mann auf fünfzig Jahre. Auf meinen Wanderungen durch den mächtigen Park der Villa, an dessen Gestade die Wogen des Kattegatts branden, entdeckte ich auf einer kleinen Anhöhe ein tannenumstandenes, niedriges Häuschen. Die Bäume drängten sich so dicht um diese Hütte, als gälte es, ein Geheimnis zu decken. Ich bog die Zweige auseinander und sah rotverhängte, blanke Fenster. Auf dem First der Hütte saß ein Rabe, offenbar zahm, und starrte mich mit seinen Kohlenaugen an. Ein glänzend schwarzer, riesiger Kater hockte vor der niedrigen Tür und glotzte in die Sonne — mich keines Blickes würdigend. Ein vorübergehendes Küchenmädchen, das rote Johannisbeeren in einem Henkelkörbchen trug, fragte ich, wer in dem Häuschen wohne. „Erling“, sagte sie. Es klang fast ehrfürchtig... Mehrere Male machte ich den Versuch, Erling in ein Gespräch zu ziehen, aber es kam stets etwas dazwischen.

Eines Abends lockte mich ein heroischer, ganz beethovenscher Sonnenuntergang hinter zerrissenem Sturmgewölk über hochbrandender See auf den schmalen Steg, der zum Badehaus führt, hinaus. Hammerschläge — ich schaue hin — Erling bessert an der Treppe aus, die die Badenden ins Meer hinabführt. Ich grüße, er lüpft die Mütze und hämmert fort. Sehr geschickt macht er diese Zimmermannsarbeit. Rasch hat er eine schadhafte Stufe vollkommen erneuert.

„Baden Sie auch im Meer, Erling?“

„Ja. Jede Nacht.“

„Sie schwimmen?“

„Leidenschaftlich gern.“

Ich wollte fragen, weshalb er nachts bade, stand aber davon ab. Vermutlich hatte er am Tage keine Zeit.

„Wo sind Sie im Winter, Erling? In Kopenhagen?“

„Nein. Hier.“

„Hier!! — Hier in der Villa??“

„Ja.“

„Wer ist noch hier im Winter?“

„Niemand.“

Ich sehe ihn, von Grausen gepackt, an.

„Ist das nicht furchtbar hier — — furchtbar in der Winterkälte hier — mutterseelenallein?“...

Er blickt nicht auf, beschaut prüfend einen langen Drahtnagel und sagt halblaut: „Es ist schön“...

Ich starre ihn an und schüttle den Kopf.

„Es interessiert mich so“, sage ich entschuldigend. „Sehen Sie, ich bin Schriftsteller, Geschichtenerzähler“...

Jetzt blickt er auf.

„Geschichtenerzähler“, sagt er in einem sonderbaren Ton. „Solche Leute“, setzt er hinzu, „kommen öfter hierher, dänische Dichter.“

„Lesen Sie solche Bücher, Erling?“

Er schüttelte den Kopf. „Ich lese im Winter viel“, sagte er. „Aber keine — Geschichten. Als ich jünger war, tat ich das. Ja — Marie Grubbe — die lese ich wohl jetzt noch — dann und wann, denn Jacobsen liebe ich. Aber — was man sonst heute schreibt“... Er machte eine abweisende Bewegung mit der rechten Hand. Mein armes Epigonentum fühlte sich ein wenig gekränkt. Ich grüßte und ging. Beim Abendtee fragte ich das vorsitzende Fräulein, ob es nicht grausam sei, einen Menschen wie Erling sieben Wintermonate lang hier in der verlassenen Villa einzusperren.

Mit einem feinen Lächeln antwortet die Dame, sie habe am vergangenen 1. Mai von Erling einen Brief bekommen, in dem er jammerte, daß nun die herrliche Zeit im Trollhaus, so hieß die Villa, wieder zu Ende sei, und daß er das Fräulein und die „Horden“ — so nannte er die Sommergäste — nun wieder mit Schauder erwarte.

„Er ist nicht sehr galant, Ihr Erling, Fräulein.“

„Nein, das ist er nicht“, sagte sie lachend.

Der Mann wurde mir immer interessanter. Als diesen Abend, lange nach elf, alles im Hause schlief, ging ich nachdenklich im dämmerigen Garten umher und lauschte versonnen dem gedämpften Rauschen der stillen See — da traf ein Lichtschein mein Auge. Er kam aus dem Blockhaus. Ich schritt sogleich darauf zu, klopfte mit etwas beklommenem Herzen an, und auf das ruhige „Bitte“ von drinnen öffnete ich die Tür und blieb überrascht auf der Schwelle stehen. An einem alten Pult, auf dem eine Lampe brannte, saß Erling in seinem Arbeitsanzug, die Schürze nur fehlte. Er schrieb. Ein großer Bogen lag vor ihm, ein dicker Band aufgeschlagen neben ihm. Hinter dem Tintenfaß hockte schlafend der große, schwarze Kater, auf Erlings Schulter der Rabe, der in einen Winkel flatterte, als sein Herr sich jetzt erhob und meine Entschuldigung mit ernsten Augen anhörte. Erling bot mir einen Stuhl. Mit einem flüchtigen Blick streifte ich die Bücherrücken in dem Regal. Grundtvig, Kirkegaard, Jakob Boehme, Angelus Silesius, Goethes Faust. Die drei letzten Werke deutsch, wie der Titeldruck zeigte. Erling las also Deutsch und trieb anscheinend vornehmlich religiös-philosophische Studien... Ein großes Fernrohr, dessen Linse, wie ich später hörte, Erling selbst geschliffen, stand auf hohem Stativ nach dem Meer zu gerichtet, ein Globus auf dem Regal. Auf einem Tischchen Retorten, Sextant und ein altes Mikroskop ließen auf naturwissenschaftliche Neigungen schließen. In der Ecke stand ein Ofen, daneben ein Bett.

„Wie gemütlich Sie’s hier haben, Herr Erling.“

„Ja.“

„Wer kocht für Sie im Winter?“

„Ich selbst.“ Er wies auf einen kleinen Erkeranbau links, in dem ich einen Kochherd und Geschirr wahrnahm.

„Sie lieben die Winterzeit hier?“

„Sehr.“

„Kommt niemand im Winter zu Ihnen?“

„Nur — der.“ — Er wies auf das Bild eines Predigers im Ornat, das einzige, das über dem Schreibtisch hing.

„Er ist mein Freund, Pastor in Hoornbaek — im nächsten Dorf, unverheiratet — wie ich. Viel allein — wie ich. In manchen Winternächten, immer in der Neujahrsnacht, sitzen wir hier beim Toddy und sprechen lange miteinander“...

„Wird es früh dunkel bei Ihnen im Winter?“

„Halb vier.“

„Sie gehen wohl früh zu Bett?“

„Spät.“—

Erling sah auf die Uhr. „Entschuldigen Sie,“ sagte er, „es ist Mitternacht, meine Badezeit.“

Wir erhoben uns und wandten uns der Tür zu. Da fiel mein Blick auf ein schlicht umrahmtes Bild neben der Tür, das ein Dornenkranz schmückte. Ich sah schärfer hin und entdeckte im Halbdunkel, daß das Glas gar kein Bild barg, sondern — einen Brief oder sonst etwas Geschriebenes.

Ich blieb stehen und faßte mir ein Herz. „Was ist das?“ fragte ich.

Er sah mich groß und ruhig an. „Ein Gerichtsurteil.“

„Über wen?“

„Über mich.“

„Was besagt es?“

„Fünf Jahre Gefängnis wegen Totschlags!“

Langsam und nachdrücklich, den ernsten, trauernden Blick groß und ohne Scheu auf mich gerichtet, hatte er das gesagt.

„Haben Sie diese Strafe verbüßt?“

„Ja. — — — Er war ein Matrose, der meiner Braut nachstellte“...

„Wo ist Ihre Braut?“

Er wies mit einer seltsamen Bewegung auf die Fenster hin, hinter denen das Meer lag. „Fort,“ sagte er, „ausgewandert, verschollen...“

„Wie lange ist — ist alles das her, Herr — Herr Erling?“

„Dreißig Jahre...“

Er ging aufrecht hinaus, ich folgte ihm. Draußen drückte ich ihm die Hand und verneigte mich tief vor ihm. Kurz darauf sah ich seinen Kopf draußen auf der dämmerigen See auftauchen und verschwinden... In mattem Silberglanze lag das Meer... Ich dachte die ganze Nacht an ihn, seine Schuld und sein Leben. Als ein Wrack war er einst an dieser weltfernen Ecke gestrandet, war als ein Fischer — oder Ackerknecht dem Schicksal verfallen und hatte im Leide denken gelernt, denken, grübeln, suchen und — allein sein. Solche Weihe brachte ihm sein Leid. Und so lebt er hier, dieser Winterkönig im Trollhause, dem der erwachende Frühling in jedem Jahre die Krone vom Haupte nimmt, eine blaue Schürze umbindet und die Rolle des Schuhputzers gibt... Aber das kurze Sommerleben mit den hellen Kleidern, Strohhüten, dem bißchen Lachen und Klatsch stiebt rasch und traumhaft dahin, bald fegt es der Herbstwind mit Schwalben, Schmetterlingen, Blumen und dürrem Laube in einem Hauch hinweg. In die Fenster des Blockhauses äugt jetzt die Finsternis der Winternächte, und auf leisen Sohlen zieht das Schweigen ein in den weiten, herbstkahlen Park und das verlassene Sommerhaus. Dann sitzt er — Erling — mit erhobener Stirn vor seinem Pult, den Raben auf der Schulter, wie ein nordischer Gott, klar seinem Denken nachhängend. Sein ruhiger Blick fällt dann und wann auf den Dornenkranz — nur wie ein ferner, blasser Traum erscheint dem Einsamen dann Leben und Welt, Leiden und Lieben — Verlieren und Bangen, fernab — überwunden alles das — — alles. — — — Wenn in den Sturmnächten die See wild heraufkocht gegen das Blockhaus, die Bäume im Park ächzen, dann richtet der geängstigte Seemann draußen vom heulenden Meer einen sehnsüchtigen Blick auf das arme, kleine Licht, das dort drüben verloren aus dem Fenster des Einsamen durch die stürmische Nacht irrt...


Text: Hans Land, Flammen und andere Geschichten (Berlin: S. Fischer, 1911), S.81-93. Vgl. Berliner Illustrierte Die Woche, Jg.8, Nr.37 (15. Sep. 1906), S.1626ff., auch eine japanische Übersetzung von Mori Ôgaï: 冬の王 (Winterkönig).